* 46 *
Septimus und Feuerspei durchbrachen den Schutzschild, und mit einem kreischenden Geräusch bohrte sich Feuerspeis Nasenstachel in den weichen weißen Bauch des Dunkeldrachen. Feuerspei wurde nach hinten geschleudert, aber der Dunkeldrache war anscheinend nicht beeindruckter, als wenn ihn eine Wespe gestochen hätte.
Feuerspei fing sich rasch wieder und fauchte vor Erregung. Er war jetzt in dem Alter, in dem er in grauer Vorzeit, als die Welt noch voller Drachen war, seinen ersten Zweikampf gesucht hätte. In jenen Tagen hatte ein Drache unter seinen Artgenossen erst dann als erwachsen gegolten, wenn er mit einem anderen Drachen gekämpft und ihn besiegt hatte. Und deshalb wünschte sich Feuerspei tief in seiner Drachenseele jetzt den Kampf.
Den wollte auch der Pilot des Dunkeldrachen. Merrin lehnte sich zwischen den gesträubten Stacheln hinunter. Seine Augen flackerten vor Aufregung, und ein in der Burg beliebtes Schimpfwort für Lehrlinge benutzend, schrie er: »Ich werde dich kriegen, Raupenjunge!«
»Nie im Leben, Rattengesicht!«
Merrin richtete den Daumen mit dem Ring drohend auf Septimus. »Du bist so gut wie tot. Und dein Spielzeugdrache auch. Jawohl!«
Als Antwort schössen Septimus und Feuerspei an dem Dunkeldrachen vorbei, bevor dieser wusste, wie ihm geschah. Sie zischten so dicht vorüber, dass Septimus die roten Pickel in Merrins blassem Gesicht und den blanken Hass in seinen Augen sehen konnte – der ihn mehr entsetzte als der Anblick des Dunkeldrachen aus nächster Nähe. Im Vorbeifliegen machte Septimus eine sehr beleidigende Geste und erntete dafür von Merrin einen Schwall übelster Beschimpfungen, die sich jedoch im schwarzen Nebel verloren.
Septimus und Feuerspei hielten am äußersten Rand des Nebels in der Luft an und blickten zurück. Weit unter ihnen, ganz am Ende des klaren Luftkanals, der hinter ihnen entstanden war, sahen sie die gewaltige Masse des Dunkeldrachen. Und dahinter die magischen Lichter des Zaubererturms, deren Blau und Lila langsam zu einem matten Rot wurden.
Wie sie so oberhalb des Dunkelfelds schwebten, über sich die Sterne und unter sich Stille, kam eine Ruhe über Septimus und seinen Drachen und versetzte sie in einen Zustand, der von Drachenprägern häufig angestrebt, aber nur selten erreicht wird. In Drachenhandbüchern (siehe Draxx, Seite 1141) wird dieser Zustand als Synchronismus, als Übereinstimmung, bezeichnet. Drache und Präger werden eins, denken und handeln in völligem Einklang.
Einen Moment lang schwebten Septimus und Feuerspei über dem Rand des Dunkelfelds und blickten auf den Dunkeldrachen tief unten am Ende der Nebelschneise hinab. Sie wussten, dass sie handeln mussten, solange sie gute Sicht hatten.
Mit einem Satz neigten sie sich nach vorn und gingen in einen Sturzflug über. Septimus drückte sich gegen den breiten, flachen Stachel vor ihm und hielt sich fest, während sie wie eine zur Erde fallende Kugel in die Tiefe sausten und sahen, wie Merrin zu ihnen heraufschaute, brüllte und seinen Drachen trat. Mit einer schönen, kontrollierten Bewegung drosselte das synchronisierte Paar das Tempo, schwenkte nach links, visierte das hintere Flügelpaar des Dunkeldrachen an und zerfetzte es mit Feuerspeis Nasenstachel. In einer aufwirbelnden Wolke splitternder Flügelknochen und stinkender Hautfetzen schössen sie auf die andere Seite des Dunkeldrachen, wendeten und nahmen ihr Werk in Augenschein.
Der Dunkeldrache geriet ins Trudeln. Die entsetzten Schreie seines Piloten wurden vom Nebel verschluckt, als er abwärtsschoss in Richtung Zaubererturm. Mit einem dumpfen Knall, der wie ein fernes Donnergrollen durch den Nebel drang, prallte der Dunkeldrache gegen den schwächelnden Schutzschild. Magische Funken stoben in die Luft, und Notlichter flammten auf wie ein Blitz, der zur Erde fuhr. Der Dunkeldrache wurde von dem Schutzschild zurückgeworfen und stürzte, wild mit dem Schwanz und den vier verbliebenen Flügeln schlagend, auf die Dächer der Häuser, die vor dem Hof des Zaubererturms standen. Die Synchronisierten sahen triumphierend zu – sie hätten sich nicht träumen lassen, dass es so einfach war, den Dunkeldrachen außer Gefecht zu setzen.
Doch ganz so einfach war es nicht. Vier Flügel genügen einem Drachen zum Fliegen, selbst wenn er so schwerfällig ist wie das Ungetüm, das Merrin herbeigezaubert hatte. In einem Hagel zertrümmerter Schornsteine und Dachziegel rappelte sich der Dunkeldrache wieder auf, hockte eine Weile auf einem Dach und stieg, als die Dachsparren unter seinem Gewicht langsam einknickten, in die Luft, alle sechs Augen fest auf Feuer spei gerichtet. Im nächsten Augenblick kam der Drache auf sie zugeflogen, das Maul mit drei Reihen langer, eng stehender, nadelspitzer Zähne weit offen.
Septimus und Feuerspei warteten und ließen den Drachen herankommen. Und als er ihnen so nahe war, dass sie die kleinen schwarzen Pupillen in allen sechs roten Augen sehen konnten (aber nicht die des Piloten, denn der hatte seine zugekniffen), flitzten sie in den toten Zehn-Grad-Winkel hinter dem Schwanz des Monstrums, dann wie ein Pfeil unter dem weißen Bauch hindurch und schließlich wieder hinauf, direkt vor den kastenförmigen Kopf – der noch nach oben blickte und sich verwundert fragte, wo die beiden wohl geblieben waren. Sie waren fort. Und dann verpassten sie ihm mit ihrem Schwanzstachel einen Hieb auf die Nase. Zack. Drachennasen sind hochempfindlich, und ein schmerzerfülltes Brüllen ertönte hinter ihnen, als Septimus und Feuerspei wieder außer Reichweite flogen.
»Das werdet ihr mir büßen!«, hörten sie Merrin schreien, als sie den Gegner in sicherem Abstand umkreisten.
»Das hättest du wohl gern!«, rief Septimus zurück.
Und so reizten sie den Dunkeldrachen und seinen Piloten: Sie tauchten hinab, flogen um ihn herum, verschwanden außer Sicht, nur um gleich darauf aus der genau entgegengesetzten Richtung, in die der Drache blickte, wieder aufzutauchen. Sie versetzten ihm empfindliche Hiebe mit dem Schwanz. Sie rammten ihm den Nasenstachel in den Bauch. Ja, es gelang ihnen sogar, mit Feuerspeis leerem Feuermagen einen Feuerstoß zu erzeugen und die Spitzen eines zweiten Flügelpaars zu versengen. Der Dunkeldrache reagierte auf jeden Angriff – nur fünf Sekunden zu spät. Oft wehrte er noch die letzte Attacke ab, als schon die nächste kam, und bald brüllte das Ungeheuer vor Wut und Enttäuschung, und sein Pilot wimmerte vor Angst.
Nach einigen Minuten flogen sie, aufgeregt und atemlos, durch den schwarzen Nebel nach oben, um sich kurz zu beraten. Direkt über der Kuppe des Dunkelfelds schwebend und vom Wind umtost, atmeten Septimus und Feuerspei die klare, vom Nebel nicht verpestete Nachtluft ein. Über ihnen funkelten Sterne, und unter ihnen wogten die Nebelranken wie Seegras in einer Meeresströmung. Überschwängliche Freude erfüllte sie.
Doch weit unten lauerte noch immer der Dunkeldrache. Es wurde Zeit, dass sie das Monster aus seinem Dunkelreich vertrieben. Sie vermuteten, dass es mittlerweile so wild darauf war, sie in seine Klauen zu bekommen, dass es ihnen überallhin folgen würde. Sie nahmen noch einen tiefen Atemzug in der klaren Luft, dann rauschten sie wieder hinab, direkt auf die sechs roten Augen ihres Opfers zu, die im Nebel leuchteten wie glühende Kohlen.
Darauf achtend, dass der Dunkeldrache sie jederzeit im Blickfeld hatte, trieben sie nun ein Katz-und-Maus-Spiel mit ihm und seinem Piloten. Immer wieder flogen sie so dicht an ihn heran, dass er mit seinen Säbelkrallen nach ihnen hieb, aber nie so nahe, dass er sie tatsächlich erreichen konnte. Ein- oder zweimal kamen ihnen die Krallen gefährlich nahe, und sie spürten, wie der Luftzug Septimus das Haar zerzauste, als sie an ihrem Kopf vorbeiwischten. Und so lockten sie den Dunkeldrachen, indem sie ihn reizten und foppten, seine Hiebe parierten und ihn mit Finten täuschten wie ein geschickter Fechter, immer weiter nach oben, ohne dass der wimmernde Merrin etwas dagegen unternahm.
Wie eine Kugel schössen sie aus dem schwarzen Nebel hinaus. Und der Dunkeldrache schoss hinterher, nur Augen für den Widerhaken von Feuerspeis Schwanz, der so verlockend nahe war, keine Flügelbreite vom Nasenstachel des Dunkeldrachen entfernt.
Der Drache prallte gegen die kalte, klare Luft wie gegen eine Wand. Verdutzt verharrte er im Flug. Zum ersten Mal in seinem kurzen, boshaften Leben war er ohne die Sicherheit der schwarzen Magie. Unter ihm war nichts als der kalte dunkle Fluss. Sein Pilot riss die Augen auf, blickte nach unten und schrie.
Der Dunkeldrache spürte, wie ihm die Kräfte schwanden. Er warf den Kopf zurück und brüllte vor Verzweiflung. Hier, wo die dämpfende Wirkung des Dunkelfelds fehlte, war das Brüllen besonders laut und furchterregend. Es donnerte über das Land und erschreckte die Menschen im Umkreis von Meilen so sehr, dass sie unter ihren Betten in Deckung gingen. Weit unten, in Sally Mullins Tee- und Bierstube, sahen Sarah Heap und Sally Mullin entsetzt in die Nacht hinaus.
»Oh, Sally«, flüsterte Sarah. »Das ist ja furchtbar!«
Sally legte ihr den Arm um die Schultern. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Draußen, auf dem Ponton, an dem die unlängst zurückgekehrte Annie festgemacht war, ging Simon Heap mit Marcellus Pye auf und ab. Simon hatte Marcellus soeben seinen Entschluss mitgeteilt, in die Burg zurückzukehren. Er habe einiges zu geben und kenne sich gut mit den Dunkelkräften aus. Endlich habe er die Gelegenheit, mit seinem Wissen etwas Gutes zu tun – und die wolle er nutzen. Aber Marcellus hatte ihm überhaupt nicht zugehört. Er musste immerzu an Septimus denken, wie der Lehrling mit seinem kleinen Boot in dem Strudel untergegangen war. Das Bild verfolgte ihn. Er sah es immer wieder vor sich und konnte ihm nicht entrinnen. Je länger er darüber nachdachte, desto größer wurden seine Zweifel, dass Septimus noch am Leben war. Er hatte seinen liebsten Lehrling in den Tod gehen lassen. Marcellus war am Boden zerstört.
Das Brüllen des Dunkeldrachen riss ihn aus seinen Gedanken. Er hob den Kopf und sah im Licht von Sally Mullins Tee- und Bierstube, wie Feuerspei aus dem Nachthimmel herabstieß, direkt auf ihn zu. Der Drache kam, um Rache an ihm zu nehmen, aber Marcellus war es egal. Er hatte es verdient.
Sally Mullin sah, wie Marcellus zum Himmel schaute. »Da oben geht etwas vor«, flüsterte sie.
»Ich wünschte, Simon würde hereinkommen«, sagte Sarah. »Ich wünschte ...« Doch in diesem Augenblick wünschte sich Sarah so viel, dass sie gar nicht wusste, wo sie anfangen sollte, auch wenn der Wunsch, Septimus wiederzusehen, ganz oben auf ihrer Liste stand. Um sich von den hundert schrecklichen Dingen abzulenken, die Septimus zugestoßen sein könnten, beobachtete sie Marcellus.
»Er hat einen Hang zum Dramatischen, findest du nicht?«, flüsterte Sally verschmitzt, um Sarah etwas aufmuntern.
Und in der Tat, in diesem Augenblick bot Marcellus einen wahrhaft dramatischen Anblick. Die goldenen Stickereien an seinem Mantel funkelten im Schein der Lampen, der durch Sallys lange Fensterreihe fiel, als er die Arme hob und die Hände zum Himmel reckte. Dann sahen sie, wie er plötzlich herumwirbelte und Simon etwas zurief, der daraufhin sofort zu ihm rannte.
»Was ist da los?«, murmelte Sally. »Oh! Du liebe Güte! Sarah! Sarah! Da ist dein Septimus! Sieh doch!«
Sarah stockte der Atem. Ihr jüngster Sohn raste auf seinem Drachen in Richtung Fluss – und dem sicheren Tod entgegen, wie sie glaubte. Und als sie gleich darauf die furchterregende Gestalt des Dunkelmonsters erblickte, das hinter den beiden herjagte wie ein Falke hinter einem Spatz, schrie sie so laut auf, dass es Sally in den Ohren gellte. Das Monster kam ihnen immer näher, die rasierklingenscharfen Krallen zum Zupacken bereit, und als es so nahe war, dass es den Drachen und seinen Piloten wohl jede Sekunde in Stücke reißen würde, da konnte Sarah nicht länger hinsehen – sie stieß einen verzweifelten Schrei aus und vergrub das Gesicht in den Händen.
Ein paar Meter über der Wasseroberfläche änderten die Synchronisierten wie geplant den Kurs, doch in dem Moment, als sie das Tempo drosselten, wurde Feuerspei von der längsten Kralle an der rechten Klaue des Dunkeldrachen am Kopf erwischt. Sally hätte am liebsten geschrien, beherrschte sich aber, um Sarah nicht zu beunruhigen. Sie beobachtete, wie Feuerspei zur Seite taumelte und wild mit den Flügeln schlug. Sekunden später schoss eine riesige Wasserfontäne in die Höhe.
Der Dunkeldrache war auf der Wasseroberfläche aufgeschlagen und versank schwer wie ein Haus.
Sally Mullin stieß einen Jauchzer aus. »Du kannst wieder hinsehen«, sagte sie zu Sarah, als Feuerspei knapp über dem Wasser wieder hochzog. »Den beiden ist nichts geschehen.« Sarah brach in Tränen aus. Das alles ging über ihre Kräfte.
Sally tröstete sie, behielt das Geschehen draußen aber im Auge. Als sie sah, wie Septimus in den reißenden Fluss sprang, beschloss sie, Sarah nichts davon zu sagen.
Das eiskalte Wasser raubte Septimus den Atem. Er schwamm schnell zu Merrin, der wild mit den Armen ruderte und schrie: »Hilf mir! Hilf mir! Ich kann nicht schwimmen!« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn Merrin konnte im Hunde-Paddelstil durchaus ein paar Meter schwimmen. Nur nicht weit genug, um von der Flussmitte aus das rettende Ufer zu erreichen.
Septimus dagegen war ein guter Schwimmer, und seit den Nachtübungen bei der Jungarmee machte ihm das Schwimmen im Fluss keine Angst. Er schlang Merrin von hinten den Arm um die Brust und schwamm mit ihm langsam auf Sally Mullins Ponton zu. Über ihm kreiste nervös Feuerspei, der aus einer klaffenden Kopfwunde blutete, doch auf den Befehl seines Piloten hin flog er davon und landete auf den breiten Steinen des Neuen Kais. Septimus spürte, dass er von der Strömung an Sally Mullins Ponton vorbeigetrieben wurde, und versuchte erst gar nicht, dagegen anzukämpfen. Stattdessen schwamm er, Merrin wie einen schweren Sack in den Armen, in einer schrägen Linie auf das Ufer zu.
Simon sah besorgt zu. Er musste daran denken, dass er vor nicht allzu langer Zeit noch mit Freuden zugeschaut hätte, wie sich sein jüngster Bruder in dem eisigen Wasser abstrampelte, und er schämte sich dafür. Er sah, wo die Strömung Septimus und seine Last hintrieb, und so rannte er los zu der Stelle, wo er voraussichtlich an Land gehen würde, nämlich zum Neuen Kai, auf dem Feuerspei soeben gelandet war. Während er noch den Weg entlangrannte, hörte er vom Fluss her einen Schrei und gleich darauf ein lautes Platschen. Am Kai angekommen, sah er, dass Septimus ein paar Meter vom Ufer entfernt mit Merrin kämpfte – genau in der Entfernung, die Merrin im Hunde-Paddelstil zurücklegen konnte.
Merrin schien sich auf wundersame Weise erholt zu haben und war gerade dabei, Septimus unter Wasser zu drücken. Septimus wehrte sich, aber das feine Gewebe seines Dunkelschleiers war zerrissen und den Kräften des doppelgesichtigen Rings nicht gewachsen, die sich bei einem Mordversuch verzehnfachten. Als Merrin den prustenden und um sich schlagenden Septimus erneut unter Wasser drückte, stürzte sich Simon kopfüber in die Fluten.
Da die Kräfte des doppelgesichtigen Rings – und Merrin selbst – voll damit beschäftigt waren, Septimus zu ertränken, hatte Simons altmodischer Faustschlag gegen Merrins Kopf die gewünschte Wirkung. Merrin ließ Septimus los, nahm einen Riesenschluck Wasser und ging langsam unter. Septimus sah fassungslos seinen Retter an.
»Alles in Ordnung?«, fragte Simon.
Septimus nickte keuchend. »Ja. Danke, Simon.«
Mit einem Gurgeln verschwand Merrin unter der Oberfläche.
»Ich hole ihn!«, rief Simon, der von dem eisigen Wasser schon ganz blaue Lippen hatte. »Schwimm du zur Treppe.«
Aber Septimus traute Merrin nicht. Er schwamm neben Simon her, als dieser Merrin zum Ufer schleppte, und als sie am Neuen Kai ankamen, half er ihm, Merrin aus dem Wasser und die Treppe hinaufzuziehen. Sie legten ihn mit dem Gesicht nach unten auf die Steine wie einen toten Fisch.
»Wir müssen das Wasser aus ihm herauspumpen«, sagte Simon. »Ich habe in Port gesehen, wie man das macht.« Er kniete sich neben Merrin hin, drehte ihn um und legte ihm die Hände auf den Brustkorb. Rhythmisch begann er zu drücken. Merrin hustete schwach. Dann hustete er noch einmal, prustete und würgte plötzlich einen Riesenschwall Flusswasser aus. Dabei fiel etwas klirrend auf die Steine, und als Septimus hinsah, lag da eine kleine silberne Scheibe mit einem Loch in der Mitte. Er versuchte, nicht daran zu denken, wo sie gerade herkam, und hob sie auf. Sie lag schwer in seiner Hand und glitzerte im Schein der einzigen Fackel, die am Kai brannte.
»Es muss wehgetan haben, die zu schlucken«, sagte er staunend.
Doch Simon war nicht überrascht. Als Merrin im Observatorium sein Gehilfe gewesen war, hatte er alle möglichen Gegenstände aus Metall verschluckt. Aber an diese Zeit in seinem Leben wollte Simon nicht erinnert werden – geschweige denn Septimus daran erinnern. Also schwieg er.
Merrin regte sich. »Gib sie zurück«, stöhnte er schwach. »Sie gehört mir.«
Septimus und Simon hörten nicht hin.
Simon betrachtete die Scheibe in der Hand seines Bruders. »Das sind die paarigen Geheimformeln!«, sagte er aufgeregt. »Wir müssen sie sofort zu Marcia bringen.«
Septimus missfiel das »Wir«. »Das übernehme ich«, sagte er und verstaute die Scheibe in seinem Lehrlingsgürtel.
»Aber ich weiß, wie man sie anwendet«, protestierte Simon.
»Das weiß Marcia auch«, erwiderte Septimus geringschätzig.
»Wie denn? Sie hat doch keine Ahnung, wo sie anfangen soll.« Simon klang verzweifelt.
Hastige Schritte unterbrachen den Streit. Sarah, Sally und Marcellus kamen zum Neuen Kai gelaufen. Septimus, der jetzt nicht in einen Wiedersehenstaumel hineingezogen werden wollte, winkte ihnen kurz zu und rannte zu Feuerspei, der mit einem triumphierenden Blick auf dem Kai hockte. Er hatte seinen ersten Zweikampf gewonnen. Er war jetzt ein vollwertiger, erwachsener Drache.
Sekunden später waren Feuerspei und sein Pilot wieder in der Luft. Tropfen von Drachenblut markierten ihre Flugroute zum Zaubererturm.
Sprachlos vor Enttäuschung sah Simon zu, wie die beiden im schwarzen Nebel verschwanden.
»Simon.« Sarah fasste ihn sanft am Arm. »Simon, mein Junge, du frierst. Komm mit in die Stube. Sally hat Feuer gemacht.«
Simon war froh, dass sie Septimus nicht erwähnt hatte. Er sah seine Mutter an, die selbst fröstelte, obwohl sie eine von Sallys Decken um die Schultern trug. Es tat ihm sehr leid, aber er konnte jetzt nicht mitkommen – er hatte noch etwas zu erledigen.
»Entschuldige, Mom«, sagte er sanft, »das geht nicht. Ich muss weg. Geh du mit Sally wieder hinein. Sag Lucy, ich – na ja, bis später.« Und damit drehte er sich um und lief den Weg zum Südtor des Zaubererturms hinauf.
Sarah sah ihm widerspruchslos nach, was Sally zu denken gab. Sarah wirkte niedergeschlagen, und Sally führte ihre Freundin zurück ins Cafe an den Platz neben dem Kamin. Nicko, Lucy, Rupert und Maggie scharten sich um sie, doch Sarah blieb die ganze restliche Nacht reglos sitzen und sprach kein Wort.
Marcellus Pye brachte den zitternden und triefend nassen Merrin in eine von Sallys düsteren, fensterlosen Schlafbaracken und gab ihm einen Stapel trockener Decken. Als er die Tür abschließen wollte, funkelte ihn der Gefangene zornentbrannt an.
»V...Versager«, fauchte Merrin, dessen Erkältung mit Macht und einer dicken Triefnase zurückkam. »Ihr b...blöder Schlüssel wird mich nicht aufhalten.« Er richtete den linken Daumen auf Marcellus. Die grünen Gesichter an seinem Ring funkelten boshaft. »Wer den trägt, ist unbesiegbar. Hatschi! Ich trage ihn, also bin ich unbesiegbar. Ich kann tun, was ich will. B...Blödmann!«
Marcellus ließ sich nicht zu einer Antwort herab. Er zog die Tür zu und schloss ab. Dann betrachtete er Sallys windigen Blechschlüssel und sagte sich, dass Merrin wahrscheinlich auch ohne die Macht des doppelgesichtigen Rings ausbrechen konnte – allerdings nicht im Moment. Schlotternd vor Kälte und noch unter Schock, nachdem er beinahe ertrunken wäre, war der Bursche vorläufig nicht in der Verfassung, überhaupt etwas zu tun.
Marcellus bezog vor der Schlafbaracke Posten. Um sich in der Kälte warm zu halten, ging er auf und auf, und während seine Schuhe über die mit Raureif bedeckten Steine klapperten, sann er über Merrins trotzige Worte nach. Im Unterschied zu vielem anderen, was der Bursche so redete, entsprachen sie diesmal der Wahrheit. Solange er den Ring trug, war er tatsächlich unbesiegbar und konnte weiter Chaos und Verwüstung anrichten. Für Marcellus gab es keinen Zweifel: Solange Merrin im Besitz des Ringes war, schwebten die Burg und ihre Bewohner in großer Gefahr.
Beim Gedanken an den bibbernden, schniefenden Jungen, der allein in der Schlafbaracke lag, überkam Marcellus ein Anflug von Mitleid, doch er schob ihn beiseite und rief sich die höhnische Geste in Erinnerung, mit der ihm Merrin den Ring hingestreckt hatte. Marcellus war klar, dass der Bursche Rache nehmen würde, sobald er wieder gesund war. Der Alchimist durfte keine Zeit verlieren. Er musste etwas unternehmen. Schnell. Sofort.
Rasch erklomm er die Treppe zur Tee- und Bierstube. Er fragte sich, wie scharf Sallys Küchenmesser wohl waren ...